Archiv der Kategorie: An der Oder (Herbst 2023)

Kleeblattfahrt Nummer Eins: An die Oder

2.10.2023 – Eigentlich. Was für ein gefährliches Wort. Es signalisiert, dass sich ursprüngliche Einschätzungen oder Pläne geändert haben. Stimmt leider. Eigentlich hätte dieser Blog in den kommenden zwei Monaten Bilder und Erzählungen aus Finnland enthalten sollen. Leider mussten wir diese Pläne über den Haufen werfen. Achims Mama hatte kürzlich einen Herzinfarkt und wir wechseln uns nun mit seinen Schwestern bei der Betreuung seiner Mutter ab. In unseren Pausen werden wir von Göttingen aus kleeblattförmige Touren unternehmen. Die erste führte uns nach Nordosten an die Oder.

Auf dem Weg dorthin haben wir am Ruppiner See geschlafen. Nach einem frühen Bad am Morgen haben wir auf dem Steg gefrühstückt – und uns überlegt: „Hier sieht es eigentlich aus wie in Finnland. Oder?“

Am Nachmittag erreichen wir unseren Stellplatz in Mescherin an der Oder, etwa 30 Kilometer südlich von Stettin. Hier darf man im kleinen Hafen direkt am Fluss stehen.

Wir entrichten beim Hafenmeister, einem rund 80 Jahre alten Herrn mit rosiger Haut und sonniger Laune, unseren Obulus von fünf Euro.

„Dahinten links geht es auf den Stettiner Berg. Ich sag immer: Wer da nicht hoch gestiegen ist, darf nicht sagen, dass er in Mescherin war.“

Das wollen wir uns natürlich nicht nachsagen lassen und machen uns nach dem Kaffee auf den Weg. Ein paar Minuten geht es über steile Treppen nach oben, dann haben wir einen tollen Ausblick. Die Auenlandschaft ist dem ursprünglich verästelten Lauf des Flusses zu verdanken. Die Oder ist hier zweigeteilt: es gibt die West- und die Ostoder, dazwischen die Auen.

Weiter geht es mit den Rädern nach Osten. In fünf Minuten ist die Brücke erreicht und auf der anderen Flussseite liegt Polen.

Unter der Brücke über die Ostoder bei Gryfino suchen wir einen Geocache, finden ihn aber nicht. Schade, aber wir bleiben ja noch ein paar Tage hier im Grenzgebiet, so dass Achim noch Chancen auf seinen ersten polnischen Cache hat.

Wir radeln zurück nach Deutschland, direkt hinter der Grenzbrücke steht ein Aussichtsturm. Bei Einbruch der Dämmerung macht sich eine erwartungsvolle Stimmung unter der Handvoll Vogelgucker breit. „Wenn es gerade dunkel wird, kommen sie und landen dort zum Übernachten“, erklärt mir die Frau neben uns. „So nah?“, frage ich erstaunt. Sie nickt. Es dauert noch eine kleine Stunde, währen der wir Silberreiher, Bachstelze, Fledermaus und Massen von Staren beobachten, bis die Stars des Abends kommen. Mit ihrem typischen Gru Gru fliegen sie ein, die Kraniche, zu Hunderten, und landen genau dort, wo meine Nachbarin es vorhergesagt hatte. Wie wir uns freuen.

Dann ist es dunkel, bis zum Stellplatz sind es nur fünf Minuten und es ist noch warm genug, den Gin, ein Tavla und sogar das Abendessen draußen zu genießen.

Ab und zu hören wir es im Wasser platschen, zirpen oder tschirpen. Keine Ahnung, was da im Dunkeln im und auf dem Fluss los ist, jedenfalls eine ganze Menge. Besser als Radio.

Ein Stück nach Süden, ein Stück nach Norden, dazwischen immer wieder Kraniche

4.10.2023 – Wieder stehe ich auf dem Aussichtsturm und warte auf den Einflug der Kraniche. Bis sie kommen, habe ich Zeit zu bloggen.

Gestern sind wir nach dem gemütlichen Frühstück am Fluss 30 Kilometer nach Süden geradelt.

Links von uns fließt meistens der Strom, manchmal weicht der Radweg von ihm ab und große Schilffelder, Birkenwälder, Gräben oder Teiche liegen zwischen uns und dem Wasser. Der Flussname Oder, so haben wir erfahren, stammt aus dem Sanskrit und bedeutet „Die Wandelbare“. Hier, nahe dem Delta, mäanderte der Fluss früher in vielfältigen Formen.

Der Gegenwind macht uns auf dem Hinweg etwas zu schaffen, wir belohnen uns im kleinen Städtchen Schwedt mit Kaffee und Kuchen. Auf dem Weg zurück fliegen wir fast und müssen ordentlich bremsen, als wir sieben Kilometer vor dem Ziel durch Gartz kommen. Um vier hören wir uns im Gasthof Stadtmühle einen Vortrag der Nationalpark-Ranger über Kraniche an. Hier ist nämlich gerade Kranichwoche mit allerlei Programm. Das Untere Odertal ist einer der bedeutendsten Binnenrastplätze, lernen wir. Aktuell sind etwa 8000 Vögel des Glücks da.

Und: Der Nationalpark Unteres Odertal, der im Zweistromland zwischen Ost und Westoder liegt, ist der einzige Nationalpark, der eine Flussauenlandschaft schützt. „Bisher“, denken sich die Gäste aus Freising. Denn wir wissen, dass es Bestrebungen gibt, auch Teile der Isarauen zum Nationalpark zu machen.

Nach dem Vortrag laufen wir gemeinsam zum Deich, um den abendlichen Umzug der Kraniche von ihren Futter- zu ihren Schlafplätzen zu beobachten. Gemeinsam mit den Vögeln schieben sich Regenwolken über uns und es wird rasch ziemlich nass.

Kaum sind wir zuhause, haben uns umgezogen und das erste Getränk auf dem Tisch, als das nächste Spektakel folgt. Riesige Scheinwerfer bewegen sich auf uns zu. Wie vom Hafenmeister gestern angekündigt, läuft das 80 Meter lange Fluss-Kreuzfahrtschiff Mona Lisa in unseren Hafen ein. Wir sehen nichts mehr von der Oder, aber haben einen ausgezeichneten Blick in den Salon, in dem zumeist ältere Passagiere ihren Nachttrunk zu sich nehmen und eine heiße Sohle aufs Parkett legen. Ohne die Musik zu hören, sieht das gespenstisch aus. Als wir genug geschaut haben, ziehen wir die Rollos runter.

Heute früh um sechs wirft die Mona Lisa ihren Motor an, wir drehen uns um und schlafen noch zwei Stündchen weiter.

Der Oder-Radweg bleibt in Deutschland und verlässt deshalb kurz hinter Mescherin den Fluss, der ab hier auf polnischem Gebiet fließt. Achim sucht und findet bei Komoot eine Runde, die auf der Westseite der Oder bis kurz vor Stettin führt und dann auf der östlichen Seite zurück.

Der Hinweg macht viel Spaß. Mal fahren wir durch den Wald, mal entlang (viel zu) großer Felder, mal entlang des Flusses.

An einer Stelle bewundern wir die öffentlichen Grillplätze. Zehn davon gibt es, außerdem überdachte Picknickplätze.

Als wir die Außenbezirke von Stettin erreichen, wechseln wir die Flussseite. Heute haben wir keine Lust auf Großstadt. Die sehr sehenswerte Altstadt haben wir uns vor Jahren angeschaut, als wir mit den Motorrädern nach Estland gefahren sind.

Der Rückweg ist leider ein Hindernisparcours und hat so ziemlich alles zu bieten, was man sich so vorstellt: viel befahrene Straßen ohne Radweg, Kopfsteinpflaster, Matschwege, Sandwege. Und über Bahngleise durften wir unsere Räder auch noch heben.

Ein Café gibt es nicht auf der Strecke, so dass wir uns notgedrungen zwei Becher Kaffee in einer Tankstelle kaufen.

Dann erreichen wir wieder die deutsche Grenze – erneut nur durch ein Schild markiert. Dafür liebe ich Europa.

Und jetzt muss ich Schluss machen. Die Kraniche kommen.

Am Stettiner Haff und in der pommerschen Serengeti

6.10.2023 – Die Oder fließt nördlich von Stettin durchs Haff Richtung Ostsee, wir bleiben erstmal im Süden des Stettiner Haffs bei Ueckermünde.

Wir bummeln durch die kleine Altstadt und kaufen zum Abendessen Knacker ein, die wir daheim immer recht vermissen.

Der Stellplatz beim Hafen von Mönkebude ist nicht so spektakulär wie der in Mescherin, aber bis zum Sandstrand ist es nur ein Katzensprung.

Bei frischen 18 Grad bummeln wir am Hafen lang und über den Deichweg. Mittlerweile scheint wieder die Sonne, mittags hat es gegossen. Das Stettiner Haff ist durch eine schmale Landzunge, auf der bekannte Orte wie Usedom auf deutscher und Swinemünde auf polnischer Seite liegen, von der Ostsee getrennt.

In einem nahegelegenen Wald gibt es eine sorgsam ausgearbeitete Geocache-Strecke. 12 davon spüren wir hinter, an und auf Bäumen, liebevoll in Quietscheentchen, Plastikschweinchen oder im Super Mario versteckt, auf. Dann wird es langsam dunkel und rasch kalt.

13 Kilometer südwestlich liegt der Anklamer Stadtbruch, eine weite Moorlandschaft im Übergang zwischen Land und Meer. Das rund 2.000 Hektar große Wildnisgebiet ist Heimat für zahlreiche seltene Arten wie Seeadler, Fischotter und Moorfrosch. Heute gehen wir zur Abwechslung mal nicht auf Kranich- sondern auf Seeadlerpirsch. Auf dem Aussichtsturm bei Mescherin hatten wir am letzten Abend einen Naturfotografen aus Freising (!), Joe Häckl, getroffen. Von ihm stammt der Tipp.

Bereits um zehn sitzen wir auf den Rädern, um die 13 Kilometer bis Bugewitz zu fahren. Hier geht der 10 Kilometer lange Rundweg durch die Wildnis los.

Wir stellen die Räder beim Dorfgasthof ab und machen uns, bald schon in Regensachen, auf den Weg.

Eine Sturmflut ließ 1995 den Deich zum Haff brechen. Seither ist die Moorlandschaft weitestgehend sich selbst überlassen. 

Den Tieren gefällt das: Mittlerweile gibt es hier die höchste Seeadlerbrutdichte Europas. Wir sind kaum losgelaufen, als wir den ersten hoch oben in einem Baumwipfel erspähen. „Schau, da hinten rechts sitzt noch einer!“ Dann entdecken wir einen in der Luft. Seeadler gehören zu den größten Greifvögeln Mitteleuropas mit einer Spannweite von über zwei Metern. Majestätisch schwebt er hoch über uns.

Von dem im Baumwipfel gibt es hier ein „Beweisfoto“, wie Achim sagt.

Wir laufen auf dem schmalen Pfad, dem einzigen, der für Menschen erlaubt ist, immer tiefer in das Schutzgebiet hinein und kommen an eine Stelle, die im Volksmund „pommersche Serengeti“ genannt wird.

Auf dem früheren Torfabbaugebiet wachsen jetzt diese rötlich scheinenden Gräser.

An anderer Stelle wiederum steht das Wasser auf großer Fläche, nur ein paar Grasinselchen unterbrechen die glatte Fläche.

Nach etwa vier Stunden sind wir wieder bei den Rädern und treten den Rückweg an. Plötzlich bremst Achim und deutet nach links: Kraniche, die dem Bauern die frische Wintersaat klauen und sich erstaunlicherweise dabei durch uns nicht stören lassen.